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Kategorien : Kurzgeschichten
Heute kommt der Weihnachtsmann ...

… Bei Doktor Wahnsinn im Labor
da kam mir manches seltsam vor
und auch in seiner großen Werkstatt
da sah ich mich an seinem Werk satt …
Diese Verse tönen manchmal laut durch das JEDERMANN. Sie stammen von einem gewissen Lipinski, der als Platzanweiser im benachbarten Pornokino arbeitet – doch in seinem Herzen ist er Dichter.
Das Jedermann, eine konservative Kneipe, gemütlich, rustikal mit dicken verräucherten Balken an der Decke, Stühlen und Tischen mit gedrechselten Beinen und üppigen Lampen, geplüscht, getroddelt ...
Am Tage ist es wunderbar ruhig und leer im Jedermann, der chaotische Wirt mit seiner Roxy Music-Besessenheit wird erst viel später erscheinen und die anderen Gäste auch.
Durch die selten geputzten Fensterscheiben fallen die Sonnenstrahlen ein und beleuchten für eine kurze Zeit die Leute, die an der Theke sitzen.
Es sind drei: Nämlich FRODO, LIPINSKI und FRANKIE. BINGO, der vierte Mann ist gerade zum Markt gegangen, Brötchen kaufen.
FRODO, so genannt weil er nur ein bisschen größer ist als ein Hobbit. Trotz seiner Kleinheit gelingt es ihm immer, die absonderlichsten Frauen aufzugabeln, einmal eine Leichenwäscherin, die ihn um zwei Breiten und drei Köpfe überragte – und deren Mutter ihm nachts an die eigene Wäsche gehen wollte. Und einmal einen Mann, der sich als Frau ausgab. Nun denn, nobody’s perfect …
Neben ihm LIPINKSI, Dichter und Platzanweiser im Pornokino, siehe oben.
Ganz rechts sitzt der drahtige FRANKIE. Er trägt eine dunkle Sonnenbrille, vermutlich um seine vom Saufen blutunterlaufenen Augen zu verbergen. Frankie, der ewige Student hat in Spanien eine reiche Frau kennengelernt, er wird bald heiraten und auf ihre Hazienda ziehen. Er hat aber ein bisschen Angst davor, denn seine Zukünftige weiß fast nichts über ihn und seinen versoffenen Lebenswandel.
APO, der Tageskellner steht HINTER dem Tresen. Apo ist ein hübscher Kerl, die Frauen sind schwer hinter ihm her, aber zu deren Verdruss liebt er nur eine, nämlich seine Königin, wie er sie nennt. Sehr zur Erbauung der Kumpels, die lachen sich heimlich einen ab, denn die „Königin“ ist zwar sehr hübsch, aber eine totale Zicke und so schwer festzuhalten wie … ein Floh.
Apo hat allen Kaffee serviert – und dann den kleinen arbeitslosen BINGO aus der Sippe der Roma losgeschickt, um auf dem Markt Brötchen mit Krabbensalat zu kaufen. Als Bingo mit den Krabbenbrötchen eintrudelt, zapft Apo seinen Gästen gerade das erste Bier.
Nach dem Frühstück spielt er Schach mit Frankie. Sie sind beide gleich stark, es gibt immer ein Remis. Das wird den anderen schnell langweilig, und irgendwann kommt die Frage auf: „Soll’n wir nicht lieber einen umdrehen?“
Eine rein rhetorische Frage. Man ist schließlich nicht zum Plaudern hier, sondern zum Schocken. Das ist ein Knobelspiel, bei dem man meistens gewinnt, wenn man viel Geld in der Tasche hat – und meistens verliert, wenn man eh schon pleite ist. Wie bei jedem Glücksspiel.
Die Zeit vergeht wie im Fluge. Man knobelt, trinkt Bier, manchmal erscheint ein lästiger Gast, der Spaghetti bestellt, und Apo muss in die Küche, um die Dinger aufzuwärmen. Er ist recht grimmig deswegen. Aber ein bestimmter Gast bringt ihn immer wieder in gute Laune, nämlich der, der mit sich selber Zwiegespräche führt. Apo liebt diesen Typen, vor allem, wenn er ein neues Bier bestellt. „Für deinen Kumpel auch eins?“, fragt er dann. Der Typ versteht ihn nicht und glotzt ihn nur blöde an.
Alle anderen lachen sich natürlich drüber kaputt, und bald darauf hört man wieder das wunderbare Klacken der Knobelbecher auf der polierten Theke und die Flüche, die nach einem schlechten Wurf ausgestoßen werden.
Lipinski hat Pech und steigt aus dem Spiel aus. Bingo hat von Anfang an nicht mitgeknobelt, er ist sehr arm und kann sich das nicht leisten. Die anderen drei, nämlich Apo, der unbegrenzt Getränkekredit hat als Kellner, sowie Frodo und Frankie spielen lustig weiter, jeder von ihnen verliert ab und zu, und bald stehen so viele Biere auf der Theke, dass sie die Mengen an Flüssigkeit nicht mehr trinken können und auf leichte Liköre umsteigen. Wenn sie auch die nicht mehr runterwürgen können, dann ist da immer noch Bingo, der kleine Mann aus der großen Sippe der Roma – in Wirklichkeit heißt er Grand Romano Mirga – denn der säuft wirklich alles, zusammengekippte Biere und Restpfützen vom Schnabes. Nebenbei knabbert er den Adventsteller leer, der auf der Theke steht. Die Pfeffernüsse lässt er aber liegen.
… Er erfand wusstest du das schon
die Armbanduhr mit Telefon
von der Größe her ein Achtel
der normalen Streichholzschachtel ...
Lipinski fühlt sich dem kleinen Bingo schwer überlegen. Warum? Weil Lipinski ein Künstler ist. „Hast du keinen Stolz? Ich würde nie angetrunkene Biere trinken“, sagt er zu ihm. Aber little Bingo weiß sich zu wehren: „Du lebst doch genauso von der Stütze wie ich!“ Daraufhin ist Lipinski still. Und die anderen grinsen sich einen, denn es kommt selten vor, dass Lipinski mal still ist.
„Wo steckt eigentlich der Günner?“, fragt Frodo irgendwann. Mittlerweile hängen alle wunderbar betäubt auf ihren Barhockern rum. Günner ist ein alter Sack um die fünfzig, aber echt’n Toften. Er macht im Augenblick mit ’ner verheirateten Frau rum und hat ziemlich Ärger mit deren Mann.
„Der arbeitet als Weihnachtsmann im Kaufhaus“, sagt Apo.
„Was denn, schon wieder Weihnachten?“ Frodo kichert vor sich hin. „Da muss ich ja für meine Bräute diverse Geschenke kaufen …“
„Tolle Bräute hast du!“, lacht Apo. „Wenn ich nur an diese Riesin denke, diese Leichenwäscherin! Dagegen ist die Königin…“
In diesem Augenblick kommt ein Weihnachtsmann in den Laden. Nein, das kann nicht wahr sein, das ist doch… Er ist es, unverwechselbar mit seiner schwammigen großen Gestalt!
„Günner! Alter Junge! Was machst DU denn hier?“ Frankie hebt dem Rotbekleideten sein Schnapsglas entgegen.
„Ich hatte ein bisschen Zeit, und da dachte ich mir, ich besuch euch einfach.“
„Finde ich super. Was is, Günner, willste’n Bier? Ich geb einen aus!“
„Nein, jetzt nicht, ich muss gleich wieder weg, aber dange schön!“
„Soso, du bist jetzt also Weihnachtsmann, und wie ist das so?“, grinst Apo.
„Es ist nicht schlecht. Ich muss natürlich unheimlich viel Wünsche erfüllen, aber das macht Spaß.“
„Du bist mir einer, du Schlingel! Apropos Wünsche. Was macht denn deine Süße? Oder besser gesagt, deren Ehemann?“
Der Weihnachtsmann sieht hinter seinem weißen Bart etwas unwirsch aus, und deshalb vertiefen die Kumpels das Thema nicht.
„Sag mal Weihnachtsmann“, das kommt von Lipinski, „du kannst doch bestimmt in die Zukunft sehen, willst du uns nicht erzählen, was uns so passiert? Ich zum Beispiel: Werde ich berühmt?“
Die anderen stoßen sich an: „Jau, wäre gar nicht schlecht.“ – „Bin ich dann schon tot?“ – „Was ist mit der Königin und mir?“ – „Wo ist die richtige Frau für mich?“
Der Weihnachtsmann schweigt und überlegt, das ist typisch Günner! Doch dann sagt er: „Ich bin kein Orakel, ich bin nur ein Weihnachtsmann. Aber wenn ihr unbedingt wollt, kann ich’s ja mal versuchen …“
„Der Günner ist der Tofteste!“, erklingt es im Chor.
Der Weihnachtsmann räuspert sich. „Also gut. Aber hinterher bitte nicht beschweren.“ Er stellt seinen Sack auf den Boden und wendet sich dem Kellner Apo zu. „In ein paar Jahren wirst du eine Frau kennenlernen, die dich wirklich liebt. Sie besitzt eine Fischbude, und sie hat schon Kinder. Sie sieht nicht besonders gut aus, aber mit ihr wirst du dein Restleben verbringen.“
„Was?“, fragt Apo entsetzt. „Das kann doch nicht sein! Wo ist meine Königin? Ich bin verrückt nach der Frau!“
„Darüber habe ich keine Informationen.“
An der Theke fangen sie an zu lachen. Der Günner, das is aber auch einer, der hat’s dem Apo und seiner Königin so richtig gegeben.
Der Weihnachtsmann greift in seinen Sack und kramt zwei Schachfiguren heraus. Es handelt sich um Damen: die eine schön und stolz, die andere eher unscheinbar. Er überreicht sie dem Apo, der sie misstrauisch beäugt. „Hast du die im Kaufhaus geklaut?“
Der Weihnachtsmann schüttelt den Kopf, dann lächelt er: „Und du Frodo, du wirst eine Frau kennenlernen auf einer Busreise nach Tossa de Mar, du wirst dich in sie verlieben und sie heiraten. Die Ehe geht in die Hose, du wirst deine Tochter nie wieder sehen, du wirst anfangen zu saufen - ach was, das tust du jetzt ja auch schon - und deswegen arbeitslos werden. Ist klar, welche Chemiefabrik braucht so einen Vorarbeiter …“
„Glaub ich nicht“, Frodo verschluckt sich fast an seinem Bier. „Ich und mich verlieben? Nächste Woche fahr ich doch schon nach Tossa. Und ein Blag krieg ich auch?“ Nun krümmt er sich fast vor Lachen.
„Es ist, wie es ist“, sagt der Weihnachtsmann, „aber vielleicht kannst du es ja ein wenig zum Besseren wenden.“ Er greift in seinen Sack und holt ein Lebkuchenherz heraus, es scheint zerbrochen zu sein, aber das ist nur aufgemalt. Frodo nimmt es vorsichtig in die Hand und betrachtet es skeptisch.
Der Weihnachtsmann lächelt grimmig – man kann es durch seinen Bart hindurch erkennen – und wendet sich nun Lipinski zu: „Du, mein Freund wirst leider nie den Durchbruch als Dichter schaffen, aber du hast einen heimlichen Verehrer, und der sendet dir dieses Büchlein“, er wühlt in seinem Sack herum und fördert ein schmales Heftchen zutage. Lipinski reißt es ihm fast aus der Hand. „Ich bin gedruckt, ich bin gedruckt!“, ruft er freudig aus und bewundert das Titelbild, das ihn höchstpersönlich zeigt, dann öffnet er feierlich das Büchlein und vertieft sich in seine Texte.
„Nun zu dir, Frankieboy. Hör lieber auf zu saufen!“
Frankie schaut den Weihnachstmann verständnislos an. Dieser stockt kurz, doch dann fährt er fort: „Wenn du es nicht tust, dann wirst du in vierzehn Tagen eine Treppe hinunterstürzen. Besoffen natürlich. Leider wirst du den Sturz nicht überleben.“
Frankie schüttelt den Kopf. „So’n Quatsch!“
„Meine Güte, Frankie! Du könntest es so gut haben. Deine Spanierin ist verrückt nach dir, und in drei Wochen soll die Hochzeit sein ...“ Der Weihnachtsmann greift in den Sack und holt eine gläserne Schnapsflasche in Form eines Stieres heraus, sie ist mit einer bräunlichen Flüssigkeit gefüllt.
„Hammer! Osborne im Stier!“ Frankie reißt ihm fast die Glasfigur aus der Hand, entfernt hastig den Korken und nimmt einen tiefen Schluck aus dem Stier. Doch dann fängt er an zu würgen und spuckt die Flüssigkeit auf den Boden. „Pfui Teufel, was ist denn das?“
„Tee“, sagt der Weihnachtsmann lakonisch.
„Günner, Günner, was treibst du nur mit mir …“, murmelt Frankie vor sich hin.
Der Weihnachtsmann geht nun zu dem kleinen Bingo, der mittlerweile nicht nur den Adventsteller auf dem Tresen leer gefuttert, sondern sich einen neuen von den Tischen organisiert hat. Die Pfeffernüsse lässt er natürlich liegen.
„Bingo, mein alter Freund. Hier hast du eine Flasche von deinem Lieblingsschnaps. Dreißig Jahre alter Single Malt Whisky. Genieße ihn, solange du kannst.“
Bingo kriegt riesige Augen, er kann es kaum glauben: eine ganze Flasche ganz für ihn allein! Andächtig berührt er sie und vergisst nach seinem Schicksal zu fragen.
„Wieso kriegt DER Schnabes und ich nur Tee?“, beschwert sich Frankie.
„Ach halt die Klappe“, der Weihnachtsmann schaut ihn streng an, „denk lieber drüber nach, was ich dir gesagt habe! Und nun muss ich wieder … Meine Rentiere warten.“ Mit diesen Worten hievt er sich den Sack über die Schulter und stapft in Richtung Ausgang.
„Nicht schlecht gemacht“, sagt Apo. „Seine Rentiere warten …“
„Der Günner hat’s drauf“, Frodo schaut dem Weihnachtsmann nachdenklich hinterher.
„Ist das schön …“ Lipinski kann seine Augen nicht von seinem Gedichtband abwenden.
„Der spinnt doch“, grummelt Frankie in sich hinein.
„Prost Günner! Du bist der Beste“, Bingo hält seinen Whisky zärtlich im Arm.
In diesem Augenblick sehen sie eine Gestalt durch die Tür kommen: Es ist Günner, und er trägt gar kein Weihnachtsmannkostüm mehr.
„Wie hast du das geschafft, dich in der kurzen Zeit umzuziehen?“, fragt Apo. Günner starrt ihn verständnislos an. „Seid ihr besoffen oder was? Ha, da muss ich ja schwer einen nachlegen. Also was ist, drehen wir einen um?“
Der Günner ist eben bescheiden und macht nichts viel Aufhebens um die Geschenke, die er ihnen gegeben hat, und alles andere war sowieso ein Scherz, ein erschreckender Scherz, also besser nicht erwähnen.
Bald darauf hört man wieder das wunderbare Klacken der Knobelbecher auf der polierten Theke und die Flüche, die nach einem schlechten Wurf ausgestoßen werden.
Irgendwann verlangt der mit sich selber sprechende Gast die Rechnung. „Wie wollt ihr denn zahlen? Zusammen?“ Apo amüsiert sich köstlich und freut sich schon auf die Königin, denn die hat ihm heute eine Audienz gewährt.
Auch die anderen verlassen nach und nach das Jedermann, denn bald wird es dort voll werden. Auf der Theke bleibt ein Lebkuchenherz liegen. Es sieht zerbrochen aus, aber das ist nur mit Zuckerfarbe aufgemalt.
aliasi am 16. Dezember 15
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DING-DONG ...
Wenn es DING-DONG macht, will mich mit Sicherheit jemand zu einem Stadtbummel verleiten. Meistens falle ich drauf rein - und ärgere mich hinterher schwarz, denn irgendwann kommt garantiert:
"Ich müsste ja eigentlich noch ein Geschenk für die (den) Soundso kaufen ..."
Und dann geht es los! Man wird von einem Geschäft ins nächste geschleift, um für Leute, die man gar nicht kennt, oder die einem vollkommen wurscht sind, irgendwelche dusseligen Geschenke auszusuchen.
Eine gewisse Freundin von mir hat es gerne preiswert, 2.99 ist schon irre teuer, denn:
"Das kann ich mir nicht leisten, ich bin arm."
Stimmt, sie ist wirklich arm. Zuguterletzt einigten wir uns nach zwei Stunden spontan auf eine Tüte mit rosa Gummibärchen und eine Packung Servietten, welche beide extrem geschmackvoll und auch extrem im Preis reduziert waren.
Und auch das Weihnachtsfest erhebt sein drohendes Haupt. Wahrscheinlich wird Freund Jason mich wieder auf den Weihnachtsmarkt schleppen. Und es könnte sein, dass er dort wieder diverse originelle und vor allem persönliche Weihnachtsgeschenke für diverse Bräute und Exbräute sucht. Wie letztes Jahr.
Damals fanden wir nach Stunden des Suchens einen Stand, in dem diese seltsamen Kugeln verkauft wurden:
Außerdem waren sie wahnsinnig preiswert - nur noch 6 Euro! Er kaufte 5 Paar davon, alle individuell in Größe und Farbe auf ihre Empfängerinnen abgestimmt. Auch für mich fiel ein Paar ab, aber ich weiß immer noch nicht, was ich damit anstellen soll.
Sie singen aber leise, sowas wie: DING-DONG, QUI-GONG ... Eine Warnung?
aliasi am 07. Dezember 15
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Hera muss her ...
„Also deine Geschichte, die über das Rauchen, wie hieß sie noch mal? Keine Ahnung … Aber jedenfalls fand ich die nicht so gut.“
Ja nee is klar: Das war meine erste Geschichte überhaupt, und eigentlich hatte ich immer gedacht, sie wäre zwar nicht brillant, aber ganz nett...
„Das Abgewöhnen vom Rauchen ist doch nicht schwer, man nimmt sich das vor, und dann macht man’s einfach. Schreib’ doch besser was über das Zunehmen NACH dem Abgewöhnen!“
Typisch! Mann nimmt es sich vor, und dann macht Mann es einfach. Ach Männer, ihr seid einfach Klasse! Ich bewundere eure Willensstärke, und ich bewundere euer Selbstbewusstsein ...
„Ich bin so fett geworden!“ Jasons Stimme klang resignierend.
„So ein Quatsch“, sagte ich aufmunternd. Ich log nicht, er war wirklich nicht fett, er war vielleicht nicht mehr ganz so dünn wie früher, und das nicht ganz so Dünne hatte sich auf seinen Hüften und auf seinem Bauch abgesetzt, aber er war nicht fett!
„Ach, schau’s dir doch an!“ Er lief nervös im Zimmer herum, wie er es immer tat.
„Mein Gott, man wird eben älter. Hast du denn Probleme mit Frauen?“ Ich kenne Jason schon furchtbar lange, da kann ich ruhig solche heiklen Themen anschneiden.
„Nö, eigentlich nicht.“ Jason zog eine Grimasse. „Ich krieg’ immer noch welche fürs Bett. Und das wundert mich eigentlich. Ich bin jetzt schließlich schon weit über dreißig. Und so wie ich aussehe ...“
„Jetzt mach’ aber mal halblang!“ Der hat vielleicht Probleme. Was soll ICH denn sagen? Ich bin genauso alt wie er, aber beschwere ich mich deswegen? Nein!
Nun erging er sich in detaillierten Schilderungen seines Aussehens. Er hatte seiner Meinung nach einen Rettungsring um seine Taille bekommen. Seine Figur war allgemein schlaff geworden, und er fand sich zu blass aussehend.
„Bevor du dir das Rauchen abgewöhnt hast, hast du doch auch schon über deine Figur gemeckert.“
„Aber jetzt ist es ganz extrem geworden. Ich müsste unbedingt was tun, aber du weißt ja, wie faul ich bin ...“
„Hm ...“ Ja, das weiß ich. Letztes Jahr hatte er angeregt, schwimmen zu gehen, und nachdem wir zweimal sonntags morgens schwimmen waren, da hatte er auf einmal keine Lust mehr. Ich allerdings machte weiter, und das Schwimmen bekam meiner Figur und meiner Konstitution ausgezeichnet.
„Ich kann mich selber nicht mehr im Spiegel sehen“, härmte er herum, während er weiter nervös im Zimmer herumlief.
„Dann verhäng’ doch die Spiegel.“ Ein ernstgemeinter Ratschlag von mir, denn das nicht mehr in den Spiegel gucken oder vielmehr das haarscharfe Danebengucken, das praktiziere ich in letzter Zeit selber. Nur so zum Üben, denn eigentlich sehe ich noch ganz passabel aus.
„Wie gesagt, fürs Bett kriege ich immer noch Frauen.“
„Super, ist doch gut! Aber das reicht dir wohl nicht ...“ Jason hat meines Wissens nur einmal für längere Zeit mit einer Frau zusammen gelebt, und die hat ihn dann verlassen. Hat er damals einen Knacks gekriegt? Ich habe ihn danach gefragt, und er erzählte mir stattdessen von einer anderen Frau, angeblich seiner großen Liebe, die aber weit über ihm stand, wie er behauptete. Der hatte Komplexe, weil sie Ärztin war.
„Was willst du eigentlich?“, fragte ich nach. Mein Freund Jason ist nun mal ein Mann, und deswegen kann ich ihn schwer verstehen, obwohl ich ihn schon so lange kenne. Er will, so erzählt er mir jedenfalls, sein Leben ändern, er will eine Frau kennen lernen, die er lieben kann und die ihn auch liebt. Und er hofft, dass er dann mit seinem Geld besser klar kommt, dass sie ihn in den Hintern tritt, damit er ... besser wird?
„Ach! Und sonst willst du nix?“ Männer! Manche sind lebenslang auf der Suche nach etwas, picken sich dann aber mit alptraumhafter Sicherheit die schlecht gewordenen Rosinen aus dem Kuchen des Lebens heraus. Himmel, was für ein blöder Gedanke! Ich bin ja auch nicht besser. So viele Beziehungen in den Sand gesetzt, so viele Hoffnungen vertan …
Jason musste lachen und setzte sich neben mich aufs Sofa. Ungewohnt, diese Nähe, und irgendwie machte mich das nervös.
„Was ist denn mit deiner früheren Freundin, dieser Marlene. Die immer noch nicht geheiratet hat. Diese gottbegnadete Musikerin?“ Eigentlich wollte ich einen Witz machen, denn als er mit dieser Marlene zusammen war, da hatte er sie mit einer furchtbar dummen Nuss namens Heike betrogen, und zwar permanent.
„Ich kann doch jetzt nicht bei der ankommen, und was sollte ich ihr schon bieten?“
Nicht schon WIEDER, dieses: „ich kann ihr doch nichts bieten“. Au Mann! Hätte er sich doch früher überlegen können. Damals vernaschte und verarschte er zwei Frauen gleichzeitig, nämlich die Musikerin und die Heike – und nebenbei machte er mir auch noch Avancen. Ich muss gestehen: Ich fand es lustig, wie er zwischen diesen beiden Frauen hin und hertaumelte, die Heike trafen wir übrigens im Stadtbad, wo sie mich misstrauisch beäugte. Das war kurz nach meiner Scheidung – … und hat mich ziemlich aufgebaut.
Tja, was konnte er einer Frau schon bieten? Ich musterte ihn genauer. Er sah wirklich nicht übel aus: 1,80 groß, recht schlank mit kurzgeschorenem Haar, das in der Mitte allerdings schon etwas zurückgegangen war, aber es stand ihm.
Weiter: Markante Gesichtszüge. Er trug schon seit Ewigkeiten eine Brille, aber auch die stand ihm. Er hatte einen weit ausgreifenden Gang wie ein Seebär, das mochte wohl von seiner Vergangenheit auf dem U-Boot herkommen.
Stimmt ja, er hatte viel davon erzählt, es war die beste Zeit in seinem Leben gewesen, Mädels in Norwegen zu ficken, ein Traum … – und dann hatte er diesen Traum aufgegeben. Für die Frau, mit der er die längste Zeit seines Lebens zusammenlebte, also ungefähr ein Jahr – und die ihn dann abschoss.
Ich hatte sie kennengelernt – damals war ich noch verheiratet – hübsch war sie, unglaublich hübsch, gute Figur, dunkle Locken, sehr bestimmend. „Willst du deine Schuhe nicht ausziehen?“, sagte sie zu Jason, als die beiden uns besuchten. Zu dieser Zeit war unsere Ehe schon im Arsch, wie ich nachträglich feststellen musste. Trotzdem hatte ich damals schon gedacht, wieso sucht der Jason sich immer so Frauen aus? Hübsch sind die ja, aber auch furchtbar dominant.
Wie auch immer, er behandelte Frauen sehr höflich, hielt ihnen die Autotür auf und war auch sonst sehr fürsorglich, wie ich schon am eigenen Leibe verspürt hatte. So etwas ist nicht unangenehm und heutzutage sehr selten.
Weiter: Er ging ab und zu ins Theater. Ja wirklich, ins Theater, ohne dass eine Frau ihn dazu in den Hintern treten musste. Wahrhaft beeindruckend. Letztens war ich mit ihm in der Oper gewesen – wir hatten das lange schon geplant – und Jason brachte tatsächlich eine Frau mit, so eine komische Gurke, genau die Sorte Frau, auf die er aus unverständlichen Gründen steht: kompliziert, arrogant, aber mit einem schönen Arsch. Hmm, den habe ich auch …
Jedenfalls hat die blöde Kuh mir den Opernabend total versaut, denn als ich mich in der Pause über die Aufführung unterhalten wollte, da sagte sie hochmütig: „Pfff, darüber spricht man doch nicht …“ Ich hätte sie erwürgen können!
Und natürlich wurde Jason von ihr sechs Wochen später abgeschossen. Ist schon komisch, jahrzehntelang geht er mit allem ins Bett, was nicht rechtzeitig auf den Bäumen ist – ohne sich jemals zu verlieben – und dann pickt er sich diese verdorbene Rosine aus dem Kuchen des Lebens heraus, eine schwer vorgeschädigte Rosine, die sich dann bei ihm drüber beschwert, dass er gefühlsmäßig nicht aus den Klottschen kommt. Und dabei hatte er Gefühle für sie, konnte sie aber nicht richtig artikulieren.
Verdammt, wieso weiß ich das alles, ich habe es allmählich satt, ihn zu trösten, wenn er sich auf so was einlässt, dann ist er selber schuld.
Egal … Er sprach ein überaus perfektes Deutsch mit einem leicht norddeutschen Einschlag – siehe U-Boot – und er hatte von vielen Sachen Ahnung, von Literatur, von Gesetzen und so weiter. Er konnte sich mit jedem unterhalten, wobei er manchmal allerdings in Schwatzhaftigkeit verfiel. Da müsste man noch dran arbeiten, ich stellte mir da so eine Art Schwatzhaftigkeitsregler vor.
Er hatte Arbeit, einen relativ sicheren Job. Er war kein Sesseldrücker (den anderen Ausdruck möchte ich hier nicht verwenden), sondern ein solide ausgebildeter Fachhandwerker. Den Techniker hatte er leider nie geschafft, dazu fehlte ihm wohl die Ausdauer.
Er liebte Kinder und Tiere, schlug einmal jemanden fast tot, weil der ein Kätzchen gequält hatte. Hört sich zwar nicht besonders gesetzestreu an, aber ich steh’ auf so was.
Alles in allem ein Prachtkerl. Ein Prachtkerl, der ein wenig absonderlich war und der langsam in die Jahre kam. Dennoch sah er für seine fünfunddreißig recht attraktiv aus.
Aber er quatschte zuviel!
„Du quatschst zuviel!“, sagte ich. Aber er meinte daraufhin tatsächlich, das würde er nur bei MIR tun. Allmächtiger, warum nur bei mir? Bin ich ein fleischgewordener Beichtstuhl oder was? Andererseits fühlte ich mich aber auch geschmeichelt.
Allmählich erwachte mein Interesse. Wäre doch gelacht, wenn man den guten Jason nicht unter die Haube kriegen würde. Unter meinen Freundinnen befand sich allerdings nichts Passendes, sie waren entweder zu alt oder zu jung, etwas in der mittleren Altersklasse war nicht vorhanden.
Außerdem kannte er sie schon alle. Das mit meiner Freundin Gabi war in die Hose gegangen. Warum? Mir kam eine Ahnung: Ich hatte diese Beziehung von Anfang an sabotiert, hatte die beiden nicht mehr zusammen eingeladen, weil ich ihren gemeinsamen Anblick nicht ertragen konnte. Und wirklich: Es ging nicht lange gut mit ihnen, vielleicht haben sie sich gegenseitig zu Tode gelangweilt.
Vielleicht sollte ich eine Anzeige für ihn aufgeben. Was würde ich schreiben?
>>>Suche für einen Freund, männlich aussehend, schlank, solide (bis jetzt ist er zwar noch nicht solide, aber das wird schon) und fürsorglich, eine nicht zu ehrgeizige Frau (muss lachen, das heißt, eine ohne Karriereambitionen, dadurch fühlt er sich nämlich minderwertig), sie sollte hübsch sein, einen Gentleman zu schätzen wissen und einen nicht zu kleinen Busen haben (nein, das mit dem Busen würde ich natürlich nicht schreiben).<<<
Sonst noch was? Jason hatte mal erwähnt, dass er nicht unbedingt Kinder haben wollte, aber das konnte ich vernachlässigen, denn wenn er die RICHTIGE Frau traf, dann würde er sich Kinder wünschen, ganz sicher. Ich glaube, Jason wäre ein guter Vater, ich habe gesehen, wie er mit seiner kleinen Nichte umging. War richtig süß.
Ich steigerte mich in die Frauensuche hinein, und allmählich überkam mich ein sonderbares Gefühl, ich fühlte mich stark und mächtig, und dann – blitzartig – hatte ich die Erkenntnis: Ich fühlte mich wie die Göttin Hera, nein, nicht wie die rachsüchtige Hera, die immer den armen Herakles gequält hat (gespielt von Kevin Sorbo), sondern wie die erhabene Hera, die allgegenwärtige Hera, die Schutzpatronin und Förderin der Ehe. Hera hatte Besitz von mir ergriffen.
Oh ja, das Wunderwort Ehe … Ein Wort, so weich, verheißungsvoll und vielversprechend. Dieser Mann musste verheiratet werden! Ich konnte diesen Mann meinen Geschlechtsgenossinnen nicht vorenthalten. Obwohl ... wenn er nun dadurch unglücklich wurde? Wenn er an die Falsche geriet?
----Es gibt kein permanentes Glück, weder in der Ehe noch im Alleinsein, denn das Glück ist ein Sekundärzustand, der nicht permanent sein kann, weil ein Sekundärzustand eben ein von anderen Zuständen abhängiger Zustand ist, eben ein Sekundärzustand – und kein Primärzustand. So ist das Leben eben. Basta! Aber trotz dieser Erkenntnis oder gerade deswegen muss die Ehe geschützt werden. Ohne den Glauben an sie würde auf der Erde das Chaos ausbrechen .----
Habe ich da eben philosophiert? Damit hab’ ich gar nix am Hut. Philosophieren ist nicht Sache der Frauen, die haben Wichtigeres zu tun, als über Sinn oder Unsinn des Lebens nachzudenken. Arbeiten, putzen, alles in Ordnung bringen… Und was sind das für Gedankengänge? Sekundärzustand, Primärzustand... Böhmische Dörfer!
----Mein Zeus ist auch nicht der ideale Ehemann, der mit seinem Fremdgehen! Egal ob mit Göttinnen oder mit sterblichen Weibern, dieser Hurenbock, der mit seinen unehelichen Bälgern, die er so heiß und innig liebt. Dennoch bleibe ICH sein Mittelpunkt. ----
Tja, wer kennt den nicht? Er heißt Zeus, er heißt Zacharias, er hat viele Namen, unter anderem auch den Namen meines verflossenen Ehemanns… Aber das ist vorbei. Endlich!
>>>Also liebe Frauen… Wenn ihr einen guten konservativen Mann wollt, der einer Frau noch was bieten will (ihr solltet seine Kohle verwalten), wenn ihr eventuell Kinder haben wollt (da kann man bestimmt was drehen), wenn ihr nicht ganz ohne Busen seid, gerne ins Theater und Tanzen geht, wenn ihr Spaß im Bett haben wollt (ich glaube, das kann er aufgrund langjähriger Erfahrung), wenn ihr ein bisschen originell und kompliziert seid und Niveau habt, wenn ihr einen Mann mögt, der Tiere liebt und der jeden verprügelt, der ein Kätzchen quält. Wenn ihr ...<<<
Verdammt noch mal, was tue ich da überhaupt? Dieser Mann ist doch so gut, der braucht meine Hilfe gar nicht. Der wird’s schon selber schaffen.
Dennoch muss ich ihm unter die Arme greifen, ich muss Heras Vermächtnis erfüllen. Jason ist der Göttin schon viel zu lange ausgewichen, und das war ein großes Unrecht. Mann darf die Göttin nicht verachten. Aber ist Hera überhaupt die richtige Göttin? Vielleicht wäre Aphrodite eher geeignet, diesen attraktiven Mann an die…
---- NICHT DIE!, sagte Hera gerade majestätisch. DIE bringt nur Unglück! Ich kann mich noch dran erinnern, als diese Schlampe die Wette gewann. Der Idiot Paris hatte sich für die Liebe entschieden. Und was ist draus geworden? ICH habe Troja zerstört! ----
Okay, Hera mag keine anderen Göttinnen. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie Jason auf den Balkon ging und sich dort eine Zigarette ansteckte. Na Klasse, wieder rückfällig geworden! Was hat er vorhin noch gesagt: „Das Abgewöhnen ist doch nicht schwer, man nimmt sich das vor, und dann macht man es einfach ...“
Sicher doch, und das unendlich viele Male … Männer! Alles klar, er braucht eine Frau, die ihn anleitet, die ihn führt, ihn auf Trab bringt und ihn öfter mal in den Hintern tritt.
Also Hera, mach’ mal hin! Wenn du so schlau bist, dann weißt du doch bestimmt, wer die Richtige für ihn ist. Aber ein bisschen Aphrodite könnte ich auch brauchen ...
aliasi am 27. November 15
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